das rote auto
Erstes Bild.
Ein sonniger Herbsttag. Das ganze Bild ist etwas schief. Links steht über allem die Kirche, Schiff und Turm halbiert. Darunter die Landstraße, wo früher der Hang weiterging. Eine Mauer stützt die Kante, ungefähr einsachtzig hoch. Mittendrin führt eine Treppe hoch zur Kirche, daneben geht die Mauer noch etwas weiter, bis der rechte Bildrand sie abschneidet. Da hängt noch ein halbes gelbes Straßenschild, Bielefeld 15 km, an einem rot-weißen Gatter, das an die Mauer geschraubt ist. Man könnte meinen, das Gatter ließe sich herumklappen, um den Treppenaufgang zu versperren, zum Beispiel bei einer Flut. Das ergibt natürlich gar keinen Sinn, schon gar nicht in dieser Gegend. Nur von der Breite könnte es passen. Im Vordergrund des Bildes ist nur noch die Mündung einer Straße zu sehen, die t-förmig auf die Landstraße trifft.
Das rote Auto, ein Citroën GS, steht links im Bild an der Landstraße, direkt unter der Kirche, und zeigt in Richtung Bielefeld. Ein Riss geht durch den Kotflügel, und wenn das unten an den Türen kein Schmutz ist, dann ist es wohl ziemlich starker Rost. Dabei kann das Auto so alt noch nicht sein. Neben dem Kennzeichen prangt der Aufkleber mit dem »D«.
Rechts vom roten Auto hockt eine Frau an einem roten Kinderwagen. Ihr Rücken ist gerade, die Sohlen stehen ganz auf dem Boden. Sie zeigt mit dem Finger auf den Fotografen, der Arm ist durchgestreckt. Die Haare sind hellblond, fast weiß, und leuchten im Sonnenlicht. Dass sie sich mit der zeigenden Hand das Gesicht verdeckt, ist kein Zufall. Sie tut so, als würde sie dem Kind den Fotografen zeigen, aber das Kind schaut ganz woanders hin. In Wahrheit will sie nur nicht geknipst werden. Sie hasst es, aber sie sagt nichts. Sie duckt sich weg und macht allen was vor. Sie verschanzt sich mit dem Kind hinter der eigenen Hand.
Oben auf der Mauer, am Treppenaufgang, hat sich jemand hingesetzt. Weiße Ärmel, schwarze Weste, es könnte ein Geselle auf der Walz sein. Dieselben hellen Haare leuchten. Das rechte Bein ist angewinkelt, das Knie vor die Brust gezogen. Es ist kein Geselle, sondern ein Mädchen, vielleicht fünfzehn. Obwohl sie sich weggesetzt hat, ist nichts Abweisendes zu erkennen; keine Spur von Trotz. Der Rückzug sieht eher nach Rücksichtnahme aus, ein zugewandter, hoffnungsvoller Abstand. Vielleicht auch nur ein Folgeleisten, eine sanfte Leere. Auch sie blickt in Richtung des Fotografen.
Der Fotograf schaut auf seine Familie. Er ist der Besitzer des roten Autos. Die Schäden an dem Wagen hat er nicht ausbessern lassen. Er scheut natürlich die unmittelbaren Kosten, was absolut typisch ist. Drei Mal im Jahr in Urlaub fahren, aber das Auto verkommen lassen. Dabei ist es ja das Auto, mit dem man in Urlaub fährt. Tausende Kilometer, nach Frankreich und Spanien, wo sonst schon niemand mehr hinfährt, seit die Flüge erschwinglicher sind. Der größere Schaden am Auto, der nur noch, das wissen auch die Nachbarn, eine Frage der Zeit ist, wird ihn deutlich teurer zu stehen kommen. Totalschaden möglicherweise. Es hat aber keinen Zweck, man kann sich den Mund fusselig reden. Er kommt nun mal aus beengten Verhältnissen. Als jüngstes Kind lernt man die Schnauze zu halten. Es reicht sowieso nicht für alle. So viele Kartoffeln und Wintermäntel kann sich ja kein Mensch leisten, schon gar nicht so kurz nach dem Krieg. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Am Ende gab es nicht mal was zu erben. Das kleine Haus geteilt durch sieben Kinder – da reicht es eben nur für einen Franzosen.
Zweites Bild.
Es hat sich ein bisschen was getan. Die Farben sind kühler, der Sandstein der Kirche weniger grell. Die Wärme ist weg. Nur das Auto ist auf beiden Bildern gleich rot. Der Ausschnitt ist etwas nach links gerutscht und zeigt ein paar neue Details. Links vom roten Auto steht eine nachtblaue S-Klasse. Ein Haus ragt jetzt ins Bild, das Eckhaus der einmündenden Straße. Am Haus ein geschmiedetes Kneipenschild: »Zum schiefen Turm«. Leider ist der echte Turm auch in diesem Bild oben abgeschnitten. Der rechte Bildrand hat auf seinem Weg nach links ein ganzes Stück Mauer vernichtet. Auch das Straßenschild ist weg. Fast so, als wäre doch noch eine Flut gekommen.
Um dieser Auslöschung zu entgehen, hat sich das Mädchen von der Treppe bewegt und steht jetzt bei der Frau mit dem Kind. Sie ahnt noch nicht, dass sie sich Sicherheitsnadeln durch die Augenbrauen stechen wird. Dass sie sich die Haare färben, das meiste sogar abrasieren wird. Dass sie eine der wütenden jungen Frauen sein wird, in einem Leopardenimitat. Sie wird überhaupt keine Lust haben zu rebellieren. Man wird ihr aber keine Wahl gelassen haben.
Die Mutter hat sich hingestellt, aber aufrecht steht sie nicht. Sie trägt eine Indianerjacke, weiß und rot, mit Folklore-Fransen. Sie schaut nach rechts, von wo der Bildrand näher kommt. Der Kollege, mit dem sie auf der Eifelwanderung in einem Zimmer geschlafen hat, versucht es seitdem immer wieder.
Das Mädchen schaut auch nach rechts. Man könnte meinen, sie hätten beide Angst vor dem Moment, wenn sie der Bildrand erreicht. Noch sind sie im Ausschnitt, aber sie müssen mitziehen, sonst könnte es knapp für sie werden. Dabei könnte es eine solche Erleichterung sein, wenn dieser Blick von ihnen abließe.
Das Kind im roten Kinderwagen schaut jetzt direkt in die Kamera. Sein Blick wird eingefangen und fünfunddreißig Jahre lang in einer Pappschachtel aufbewahrt, bis ich ihn selbst erwidern kann.
Die Bilder sind misslungen, alle beide. Der Horizont ist schief, der Himmel weiß, der Bildausschnitt ist eine Katastrophe. Es gibt überhaupt kein Motiv und keine erkennbare Struktur. Nirgends ein goldener Schnitt. Der Fotograf war offensichtlich überfordert. Er wollte wohl alles auf einmal und hat dabei alles in Stücke gelegt. Alles, was er liebte, und alles, was ihn quälte, hat er mit einem Mal vor sich gehabt. Die Kirche, das Auto, die Frau und die Kinder. Wenn er nur ein bisschen zurückgegangen wäre! Zwanzig Meter. Oder das Objektiv gewechselt hätte! Aber es hilft ja nichts. Er hat mit dem, was er hatte, getan, was er konnte. Er hat sich bemüht. Er hat sich verschätzt. Er hat die Gelegenheit verpasst.