alles mit nach oben

»Gehet hin in Frieden.«

Viele von früher sind da, nicken sich zu und pressen die Lippen aufeinander.

»Ist trotzdem schön, dich zu sehen.«

»Fährst du noch mit nach oben?«

»Nimm mal die Kleine.«

»Hast du noch Tempos?«

»Die Predigt war gar nicht schlecht.«

Die Leute gehen in alle Richtungen weg. Es nieselt, Glättegefahr. Wenn wir mit hoch wollen, müssen wir jetzt los. Ist das die Tochter? Die hab ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen.

»So, wir sehen uns dann oben. Ihr kennt den Weg?«
»Ja, danke. Ich glaub, die meisten sind schon los, wir müssen mal gucken, wo man da parken kann.«

Wir kommen mit als Letzte oben an und kriegen einen Parkplatz noch hinterm Ortsschild. Die Kapelle ist so voll, wir stehen draußen. Gibt es jetzt noch eine Messe? Nur einen Segen, heißt es. Darf man die Hände in die Taschen, wenn man draußen steht? Ich muss, ich hab keine Handschuhe mit. Ich setze auch die Mütze wieder auf. Überall Ehemalige, kleinlautes Hallo. Ich stehe halb auf dem Weg, halb auf dem Bordstein, neben einer Pfütze.

Alle werden still, und wir denken, jetzt geht’s los. Aber es passiert überhaupt nichts. Alles still und nichts passiert. Wieviele sind da? Zwei-, dreihundert? Ich kann von so weit hinten gar nichts sehen. Wenn mich nachher einer fragt, wie die Kapelle war, kann ich nur sagen: von außen verschiefert.

Wir warten. Einer im Anzug kommt raus, drinnen wär noch Platz. Der Bestatter. Einige gehen rein, die meisten wollen sich nicht aufdrängen. Wir auch nicht, wir gehen sogar etwas weiter raus, bis wir nicht mehr unter dem Vordach stehen. Zum Glück ist es gerade trocken.

Da kommt die Familie. Deshalb dauert das so lange, ich dachte, die wären längst drin. Wahrscheinlich keinen Parkplatz mehr gefunden. Stehen vor den vielen Rücken, die ihnen den Weg versperren. Beraten – ich glaube wirklich – ob sie nicht auch draußen bleiben, wenn es drinnen so voll ist.

Der Älteste fängt an, Leute auf Seite zu bitten. Etwas älter als ich, mir fällt der Name nicht ein. Die Leute denken, da drängt sich einer durch, und bleiben stehen. Er ist ziemlich klein und läuft in die Schultern und Oberarme rein. Jetzt kommt auch die Frau, also die Witwe, auf die Tochter gestützt. Die sind noch mal kleiner. Aber sie weint und schnieft und redet so laut, dass die Leute sich umdrehen und dann auf einmal viel zu viel Platz machen. Der Älteste legt allen die Hand an den Arm, als wollte er sie wieder zusammenziehen, sich doch lieber nah an ihnen vorbeidrücken als so durch das Spalier.

Wie endlich alle drin sind, fängt die Orgel an. Von draußen versteht man kein Wort. Ein alter Lehrer von mir hat Krümel auf der Fleecejacke. Keinen Mantel gefunden? Ein Paar blaue Augen guckt mich an, ein hübsches Lächeln, zwischen zwei alten Männern durch. Sie merkt schon, dass ich sie nicht erkenne und grinst.

Hinter uns schlägt eine Glocke los, so laut, dass alle zusammenzucken. Ich halte mir die Ohren zu. Schlimmer als ein Krankenwagen, anscheinend soll die ganze Stadt es wissen. Drinnen kommt Bewegung auf. Alle treten auf der Stelle, weil erst die Familie raus soll.

Der Älteste und der Jüngste tragen die Urne an langen Henkeln, der Älteste lässig, die freie Hand in der Hosentasche, bis er es merkt und dann nicht weiß, wohin damit. Dann die Witwe mit der Tochter, dann die Eheleute der Kinder mit den sieben Enkeln, dann seine Geschwister mit Eheleuten und Kindern, dann ihre Schwester aus Neuseeland mit Familie, dann die ersten, die ich nicht mehr kenne, wahrscheinlich auch kein Blut mehr, nur noch Wasser. Enge Freunde vielleicht, die hab ich nie gekannt. Da ist der Hausarzt, zu dem hier früher alle hin sind, der Bürgermeister, der Schulleiter und so weiter.

Wir warten schön ab und mischen uns ins Hauptfeld. Bis zum Grab sind es nicht mehr als fünfzig Meter, aber wir kommen nicht so weit. Wahrscheinlich doch so dreihundert Leute, schätze ich, hinter uns noch mehr als vor uns.

Alle gucken nach links, da ist eine Pennerin aufgetaucht. Dass es das gibt auf dem Land. Volles Ornat, mit Plastiktüten, Parka, eingerollter Isomatte. Schaut ein bisschen pikiert, als würden wir ihr durchs Wohnzimmer laufen. Müsste man eigentlich die Polizei rufen. Als Schüler hätte ich so was nicht gedacht. Ob die hier schläft, bei dem Wetter?

Wir hatten erst nicht ans Grab gewollt; die armen Leute, müssen Hunderten die Hand geben. Aber wie sie das macht, die Witwe, das ist so toll, wir entscheiden uns um. Die meisten erkennt sie sofort, ruft laut den Namen, lacht, weint, nimmt sich für jeden die Zeit, nimmt jeden in den Arm, auch die Fremden, lässt sich von jedem was erzählen. Das kann dauern.

»Das ist schon toll«, sagt sie, »so einen Mann gehabt zu haben. Ist auch gut, dass es so rum war, über mich hätte der nicht so viel Gutes gehört.«

Wir kommen mit den anderen ins Gespräch. Erst flüstern alle, dann wird ganz normal geredet. Hinter mir weint einer, neben mir macht einer Witze. Der hinter mir muss auch kurz lachen und weint dann wieder los.

Da kann er ja praktisch von hier auf sein altes Haus gucken, sagen viele. Es fängt wieder an zu regnen. Die Leute rücken zusammen und teilen sich die Schirme. Nur kalt ist es, vor allem in den guten Schuhen. Man müsste Glühwein trinken.